Wiener Theologe in Podcast "Erklär mir die Welt": Christentum und Kirche hätten als Hort von Hoffnung große Chancen in einer Krisenzeit, in der es auch die Freiheit schwer hat - Religion oft "nicht Teil der Lösung, sondern des Problems", aber Welt ohne Religion nicht friedlicher
Der Wiener Theologe Paul Zulehner hat sich dagegen gewandt, im Blick auf die Kirche immer nur auf Quantität wie zurückgehende Mitgliedschaft oder religiöse Praxis zu achten statt auf Qualität im Sinne von: Wird Jesusnachfolge ernsthaft gelebt? Als Gast in der jüngsten Folge des Podcasts "Erklär mir die Welt" des Journalisten Andreas Sator nannte er es verfehlt, von den Katholikenzahlen der Gegenreformation oder der Nachkriegszeit "herunterzurechnen". Glaube sei heute keine Frage von "Schicksal" mehr, sondern von Freiheit, und Christen befänden sich auf dem Weg zum "biblischen Normalfall", als bereicherndes "Salz der Erde" zu fungieren.
Statt in Pessimismus und Jammerei zu verfallen, gelte es, die Chancen von Religion in einer Zeit zu sehen, da den Menschen angesichts von Krisen wie Kriegen, Klimaveränderung oder Migration die Hoffnungsressourcen ausgehen und in der es auch die Freiheit schwer hat, erklärte Zulehner. Die Menschen stünden heute vor der oft überfordernden Herausforderung, auf sich allein gestellt die Welt deuten zu müssen und z.B. vor die Frage gestellt zu sein: Ist mit 90 Jahren alles aus, oder ist der Tod nur ein Übergang in eine andere Existenzweise? Die christliche Überzeugung, dass die Liebe und nicht der Tod "das letzte Wort hat", ist laut dem Theologen enorm entlastend.
Zulehner räumte ein, dass Religionen in der Geschichte oft "nicht Teil der Lösung, sondern des Problems" gewesen seien. Bündnisse von Religionen mit destruktiver, erbarmungsloser Gewalt habe es immer wieder gegeben, verwies er auf den Dreißigjährigen Krieg in Europa, auf islamistische Kalifat-Fantasien mit der Unterdrückung und Folter Andersdenkender und auch auf die Legitimation russischer Kriegsverbrechen durch das Moskauer Patriarchat, das Gefallene in der Ukraine als Märtyrer verkläre.
Auf neue Weise von Gott reden
Jedoch habe die vom Aufklärer Voltaire propagierte "Religion der Philosophen" auch die Guillotine der Französischen Revolution gebracht, und die religionsfeindliche Annahme späterer Atheisten, ohne Gott wäre die Welt friedlicher, auch Stalinismus und Gulag hervorgebracht. Heute gebe es Bestrebungen, Religion ganz aus dem öffentlichen Leben zu verbannen und sie zu einer Art "Kleinunternehmen in privater Hand" zu machen, wie Zulehner sagte.
Die Kirche müsse lernen, auf eine neue Weise von Gott zu reden, absehen von Vorschriften an die Gläubigen, sie müssten "so oder so" sein, sonst drohe Strafe. Heute sei ein einladender Hinweis darauf gefragt, was das Evangelium für Möglichkeiten im Leben eröffne, riet der Theologe. Auch Papst Franziskus traue dem Evangelium zu, dass es aus sich heraus eine positive, glaubwürdige Kraft für heutige Menschen entwickelt. Diese dürften durchaus Suchende und Zweifelnde sein, letztes Kriterium für den Gott der Bibel sei nicht das Bekennen vorgegebener Glaubensformeln, sondern die Frage: "Hast du geliebt?"
Ich-Stärke durch Gemeinschaft
Seit den 1990er-Jahren zeigten Studien eine problematische Entwicklung hin zum Autoritarismus auf, wies Zulehner hin: In Familien werde zu wenig Ich-Stärke ausgebildet. Dies schüre - wie in ganz Europa beobachtbar - das Bedürfnis nach "Entlastung" durch einen starken politischen Führer. Zugleich rechnet der Werteforscher, der sich seit Jahrzehnten mit der Auswertung der Europäischen Wertestudien beschäftigt, mit einem Ende des "Radikal-Individualismus": Menschen würden sich wieder vermehrt tragenden Gemeinschaften zuwenden. Und genau hier könnten die Kirchen unglaublich viel beitragen zu einer positiven, andere nicht ausgrenzenden Entwicklung, so Zulehner: Als nicht autoritäres "Freiheitsnetzwerk" könnten sie einladend auch für jene sein, die sich das Christentum "nur einmal anschauen" wollten, und sogar dann, wenn sich diese Interessierten nur ein Stückchen davon mitnähmen, hätten sie "schon gewonnen".
Zulehner prognostizierte für diese Art von Kirche auch ein neues Amtsverständnis. Erste Messlatte dafür sollte nicht Geschlecht, Lebensstand oder akademische Ausbildung sein, sondern, ob die betreffende Person "überzeugter Follower der Jesusbewegung" ist. Und zweites Kriterium wäre die Zufriedenheit mit der gewählten Lebensform - egal ob diese verheiratet oder ehelos, heterosexuell oder schwul realisiert wird. Mit der Beschränkung auf diese beiden Kriterien hätte Kirche keine Personalprobleme, meinte Zulehner und plädierte auch für eine Form von Leitung, die ermutige und sicherstelle, dass eine Gemeinschaft in der Spur des Evangeliums bleibt. "Die Lösung liegt in der Schublade, wir müssen sie auf der Weltsynode im Oktober 2024 nur realisieren", sagte Zulehner.
(Link zum mehr als einstündigen Gespräch: https://erklärmir.at)
Quelle: kathpress.at