2013-06-09
Österreichisches Militärordinariat - Werner, Christian, Militärbischof
Predigt am 10. Sonntag im Jahreskreis, Katholische Männerbewegung
Es gilt das gesprochene Wort.
Motto: Gen 12,1; Lesungen: 1 Kön 17, 17-24; Gal 1, 11-19; Evangelium: Lk 7, 11-17
„Zieh weg aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde.“ (Gen 12, 1) Mit diesen Worten Gottes an einen gewissen Abram beginnt ein neuer Abschnitt in der Geschichte Gottes mit den Menschen. Jetzt handelt es sich erst wirklich um Geschichte im vollen Sinn, um den Beginn der Geschichte eines konkreten Volks mit konkreten Menschen in einer konkreten Zeit. Und es geht jetzt erst einmal wieder wirklich bergauf. Zuvor hatte die biblische Urgeschichte aufgezeigt, wie der Mensch sich gleich nach seiner Erschaffung in Entfremdung und Gewalt verstrickt und das Paradies für immer verloren hat. Die Gewalt hat so zugenommen, dass nur ein radikaler Einschnitt, die Sintflut, einen Neubeginn ermöglichen konnte. Aber die Menschen kamen nicht zusammen, nach dem Scheitern des überambitionierten Turmbauprojekts zerstreuten sie sich, gingen sie ihre eigenen Wege, sprachen ihre eigenen Sprachen, wohnten in ihren eigenen Städten, zerfielen zu Völkern und Staaten gegeneinander.
Einen Mann aus irgendeiner dieser Gruppen, eben diesen Abram aus Ur in Chaldäa, wählt Gott aus, um etwas Neues anzufangen, um den Menschen einen Weg aus dieser Misere aufzuzeigen. Und dieses Neue beginnt überraschenderweise nicht mit einem aufsehenerregenden Wunder, nicht mit einer gewaltigen Heldentat, mit extremer Askese oder wundersam mildtätigen Werken. Das Neue beginnt auch nicht mit einer Verheißung, wie man vielleicht meinen könnte. Das Neue beginnt mit einem Auszug aus der Heimat, aus dem Vaterhaus, mit der Erfahrung unumkehrbarer Entfremdung. Erst dann folgt die Verheißung: Es ist Abram, der später zu einem großen Volk werden sollte, zum Volk Israel, dem von Gott auserwählten Volk. Und nicht nur dieses Volk wird sich auf ihn berufen. Auch die nicht mehr national fassbare Gemeinschaft der Christen und jene der Muslime werden ihn als ihren Vorfahren ansehen – eine Gestalt der Gemeinschaft und des Friedens zwischen den großen Religionen. Aber als Abram alles hinter sich zurücklässt, ist dieses Bild von den Nachkommen, die zahlreicher sind als der Sand am Meer, nicht mehr als ein ferner, blasser Dunst. Abram sieht nur das Ungewisse und die Unsicherheit, aber er bricht trotzdem auf – und wird so vielleicht auch zum Ahnherrn aller politisch Verfolgten, aller Flüchtlinge, aller internally displaced persons und Asylwerber dieser Welt, die mehr oder weniger freiwillig ihre Heimat verlassen haben, in der oft sehr trügerischen Hoffnung, anderswo ein Leben in Sicherheit und vielleicht auch Wohlstand leben zu können.
Die Lesungen des heutigen Tages stellen für uns Nachkommen Abrahams eine Schule des Aufbrechens dar und können uns vielleicht die Augen öffnen für die Fremde und für den Weg in ein neues Land.
Aber stimmt das wirklich? In der ersten Lesung wohnen die Menschen, von denen sie erzählt, an einem Ort. Es ist keine Rede von einem Ortswechsel, Elija setzt sich mit der Krankheit des Sohnes seiner Zimmerwirtin auseinander. Der einzige, der sich aus dieser Sesshaftigkeit verabschiedet, ist der Atem des Jungen, ist das Leben selbst. Die Mutter kennt diesen Abschied bereits, ihr Mann ist schon früher gestorben. In diesem verzweifelten Augenblick wird der Hausgenosse für die Witwe zu dem Fremden, der er vielleicht immer schon war, und sein Gott mit ihm: „Was habe ich mit dir zu schaffen, Mann Gottes?“ (1 Kön 17, 18) Voller Bitterkeit wirft sie ihm vor, an der Verflüchtigung des Lebens schuld zu sein, den Tod ihres Sohnes durch sein Kommen verschuldet zu haben. Und es ist dieser Fremde im eigenen Haus, der sich als das genaue Gegenteil herausstellt. Er bittet Gott um die Rückkehr des Lebens, und Gott erhört sein Gebet. Das Leben kehrt zurück, und der Knabe „lebte wieder auf“ (22).
Ein anderer Fremder im eigenen Haus ist der Apostel Paulus. „Apostel“ bedeutet ja schon nichts anderes als „der weg, der in die Fremde Geschickte“. Jesus schickt die Apostel in die Fremde, um das Kommen des Reichs Gottes zu verkünden, jene fremde Heimat der Zukunft, die die Erinnerung an das Paradies wieder aufleuchten lässt, aber in eine andere Welt führt als jene der ersten Unschuld. Paulus hat den Menschen Jesus in seinem irdischen Wirken aber anders als die anderen Apostel nicht gekannt. Er ist ein Außenseiter unter ihnen. Ja, er hat überhaupt nur zwei von ihnen persönlich getroffen, wie er einräumt, Petrus und Jakobus, und das auch erst sehr spät, lang nach dem Tod Jesu.
Ganz ähnlich wie die Propheten des Alten Testaments betont Paulus seine Erwählung und Beauftragung durch Gott schon im Mutterleib. Diese Erwählung macht schon die Propheten wie Amos oder Jeremia oder auch Elija nicht zu allseits anerkannten Würdenträgern, sondern macht fremd und einsam und oft auch arm. Die Witwe fährt Elija voll Bitterkeit an: „Was hab ich mit dir zu schaffen, Mann Gottes“ (1 Kön 17, 18). Auch Jesus macht die Erfahrung, dass ein Prophet nirgends so wenig gilt wie bei den engsten Verwandten und Bekannten, wie in seiner Heimatstadt.
Paulus ist ein Fremder bei seinen eigenen Leuten, den Juden, nachdem er sich den Christen angeschlossen hatte. Den jüdischen Christen, zu denen er dann eigentlich gehört, ist er suspekt, weil er das Evangelium auch den Nichtjuden, den Heiden verkündet und damit das Christentum allen Menschen zugänglich macht. Aber auch den Heiden, denen er Christus als Gekreuzigten verkündet, kommt er vor wie ein Außerirdischer, bei all seinen Erfolgen bleibt er mit seiner Botschaft den meisten Menschen fremd.
Das Evangelium berichtet nochmals von einer Totenerweckung. Wieder ist der Tote der (einzige) Sohn einer Witwe, die damit alles verlöre. Aber diesmal ist doch alles anders. Jesus hat keinen festen Wohnsitz wie Elija, er ist der Fremde, der herumzieht und keinen Ort hat, wo er sein Haupt hinlegen kann. Aber gerade seine Fremdheit zieht die Menschen an. Viele folgen ihm in die Fremde, in das ruhelose Leben eines von ihnen, in dem sie aber die Fülle aller paradiesischen Verheißung sehen. Dass auch sein Tod ein Tod der äußersten Entfremdung sein wird, davon wissen sie noch nicht. Sie sehen den Tod noch in einer ihnen fremden Gestalt, in Gestalt eines Jünglings, der aus der Stadt getragen wird. Der Tod selbst macht ihn hier zu einem Fremden, nimmt ihn aus der Gemeinschaft der Menschen, die ihn lieben und die ihn selbst in die Fremde tragen. Da hat Jesus Mitleid, als er die Frau sieht. Sie ist ihm fremder als dem Elija, und dennoch ist in diesem Mitleid die Fremdheit im Grunde getilgt. Mit diesem Mitleid wird plötzlich alles anders. Es ist vielleicht das menschlichste aller Gefühle, das verletzlichste und weitherzigste, das immer nur den einen Leidenden sieht und doch niemand ausschließt. Und genau an dieser Stelle ereignet sich das Wunder Gottes: Der Tote richtet sich auf und entdeckt das Wunder der Sprache neu. Jesus gibt ihn seiner Mutter zurück, er behält nichts zurück und versucht nicht, die Gelegenheit beim Schopf zu packen und die Menschen von seiner Mission zu überzeugen. Seine Mission ist nichts anderes als dieses Mitleid mit der Frau, die ihm fremd war und die er dann wieder ihrem Leben überlässt.
Aber die Menschen, die dabei waren, haben plötzlich verstanden, ohne dass jemand sie aufgeklärt hätte. Sie beginnen sich zu fürchten, sie haben vielleicht das Göttliche in der menschlichsten aller menschlichen Regungen hervortreten sehen, sie spüren die Nähe Gottes dort, wo sie ihn nicht erwartet hätten. Ein Prophet aus alter Zeit scheint ihnen in Jesus gegenwärtig zu sein, und „Gott hat sich seines Volkes angenommen.“
Hier ist die Verheißung eines von Gott gesegneten Volkes, die Gott dem Abraham für seine Nachkommen gegeben hat, erst voll erfüllt. Mehr noch: Sie bleibt nicht auf ein Volk und eine Zeit beschränkt: „Durch dich sollen alle Geschlechter der Erde Segen erlangen“ (Gen 12, 3). Im Mitleid des Fremdlings Jesu mit der Mutter des Jünglings in der Fremde des Todes wird die Fremde selbst zum Ort der Hoffnung, dass Gott niemanden im Stich lässt, dass er selbst in der Nacht des Todes und in der Gottverlassenheit des Kreuzes der „Gott ist da für uns“ ist.