Predigt beim Ökumenischen Adventgottesdienst mit Abgeordneten des Nationalrats und des Bundesrats

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Quelle: Militärordinariat

2023-12-12 - Wien, Hofburgkapelle
Österreichisches Militärordinariat
- Freistetter, Werner, Militärbischof
Predigt beim Ökumenischen Adventgottesdienst mit Abgeordneten des Nationalrats und des Bundesrats

I.
Wir haben jetzt viel vom Heimkommen gehört – und gesungen: vom Heimgebrachtwerden und Zuhausesein.
Die meisten sprachlichen Bilder lassen sich leicht mit Heimat verbinden: das Fest, der Friede, das Land, die Ernte, das Haus.
Aber Ihnen sind sicher auch ein paar befremdliche Bilder aufgefallen, die nicht so recht zu unserem Verständnis von Heimat passen wollen: Während Heimat gewöhnlich eher mit dem kleinen, vertrauten, regionalen Rahmen, mit Grenzen zu tun hat, die Sicherheit geben, sprechen die Texte von der Weitung des Raums, von der Unermesslichkeit des göttlichen Hauses.

Und während wir Heimkommen mit je persönlichem, emotional erfüllendem, überschaubarem Glück verbinden, haben wir vom Heimbringen der ganzen Welt gehört, mit allem, was mit ihr an Gutem und vielleicht auch Bösem verbunden ist. Was hat das dann noch mit Heimat zu tun, in der wir uns wohlfühlen sollen, die wir schon zu kennen meinen oder auch nur ersehnen in unserer ohnehin schon viel zu weiten, globalisierten, rastlosen Welt?
Es ist schwieriger, heute sinnvoll von Heimat zu sprechen, als es angesichts der inflationären Verwendung dieses Worts den Anschein hat…:
So groß ist das Feld all dessen, was uns Heimat gibt und geben soll, mittlerweile geworden.
So unterschiedlich sind die Erfahrungen mit Heimat und Verlust von Heimat.
So persönlich und emotional aufgeladen ist der Begriff heute und zugleich in seiner achtlosen Verwendung so abstrakt.
So leicht erscheint es heute, durch entsprechende Lebensgestaltung Glück und Heimat für uns und andere schaffen zu können, und so groß ist auch die selten eingestandene Frustration über die Oberflächlichkeit und Erfolglosigkeit dieser Bemühungen.

II.
Dabei war das Wort „Heimat“, das seit dem Mittelalter belegt ist, lange Zeit nur in einem sehr nüchternen, rechtlich-verwaltungstechnischen Sinn verwendet worden: Heimat zu haben bedeutete das Recht zu besitzen, sich an einem bestimmten Wohnort aufhalten zu dürfen und im Notfall Anspruch auf Unterstützung zu haben.
Erst ab der Wende zum 19. Jahrhundert, dem Beginn der Deutschen Romantik, erfuhr der Begriff eine beträchtliche Bedeutungserweiterung. Er sprach dann auch ein Gefühl der Verbundenheit mit der vertrauten Natur an, mit dem Ort der Kindheit, dem eigenen (Vater-)Land.
Zu dieser Zeit erlangte das Wort im Zug der Befreiungskriege bzw. der aufkommenden nationalen Bewegungen zudem große politische Bedeutung. Die ideologischen bzw. ideologiekritischen Debatten über diesen Begriff vor allem im Gefolge seiner Verwendung zur Zeit des Nationalsozialismus sind ihnen sicher bekannt. Sie haben aber in letzter Zeit durch einen allgemeinen Trend zu Individualisierung und Entpolitisierung eher an Relevanz verloren.

Eines der ersten und markantesten Zeugnisse dieses neuen, modernen, mit Umbrüchen der Moderne zusammenhängenden Verständnisses ist Friedrich Hölderlins Ode „Heimat“ aus den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts:
Neben die örtliche treten die zeitliche und die soziale Dimension von Heimat, verbunden mit einer Tiefe des Gefühls, die uns berührt und beinah den Atem verschlägt. Die eigene Kindheit erscheint in der Entfremdung des Einzelnen sowohl als Ort wie auch Zeit der Sehnsucht, und die ersehnte Beheimatung wird ausdrücklich in der erfahrenen liebenden Gemeinschaft erkannt. Die Begrenztheit, die „Banden“ der Familie verheißen Sicherheit und Schutz:

„euch traute Berge,
Die mich behüteten einst, der Heimath
Verehrte sichre Grenzen, der Mutter Haus
Und liebender Geschwister Umarmungen
Begrüß’ ich bald und ihr umschließt mich,
Daß, wie in Banden, das Herz mir heile,“

Aber gerade die Erfahrung der unauslotbaren Tiefe zwischenmenschlicher Liebe, ihrer Unwegsamkeit und ihres Scheiterns, das nicht absicherbare Eingelassensein in die Zeit, in das Leben mit anderen, macht klar, dass es kein Zurück gibt, dass das Leid, die Folgen dieses Eingelassenseins nicht einfach ungeschehen gemacht werden können, auch wenn die physische Rückkehr zu den Orten der Kindheit möglich sein mag.

III.
Der Verlust von Heimat und die Unmöglichkeit einer Rückkehr erleben jene Menschen unter besonders leidvollen Umständen, die ihre Familie verloren haben, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden oder die sie aufgrund von militärischen Konflikten, Naturkatastrophen, Hungersnöten oder fehlenden Zukunftsperspektiven verlassen haben. Ich denke besonders an die Vertriebenen während und nach dem Zweiten Weltkrieg sowie die große Zahl von Flüchtlingen in aktuellen Konflikten, vor allem im Nahen Osten und in der Ukraine.
Heimat ist auch für jene verloren gegangen, die in ihrer Kindheit missbraucht wurden oder andere traumatische Erfahrungen gemacht haben, die zu wenig Liebe erfahren haben oder denen die Welt der Kindheit zu eng und bedrückend wurde.

IV.
Für sie und uns alle ist jene traumartige biblische Meditation über Wohnen und Heimat geschrieben und überliefert worden, die wir gerade gehört haben.
Ursprünglich als Trostschrift für die verfolgten, in ihrer Existenz bedrohten Christen seiner Zeit verfasst, zählt die Offenbarung des Johannes zunächst so ziemlich alles an Katastrophen auf, was man sich damals vorstellen konnte und was unser Leben auf dieser Erde nach wie vor bedroht: Gewitter, Erdbeben, Sonnenfinsternis, Hagelschlag, Einschlag von Himmelskörpern, verdorbenes Trinkwasser, Krankheit, Trockenheit, Brände, Heuschrecken, ideologischer Zwang, Diktatur, Krieg.
Obwohl die Lebenswelt der Menschen auf diese Weise so stark zerstört worden sein wird, dass unser Text festhält: „der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, auch das Meer ist nicht mehr“, bedeutet das nicht das Ende des Lebens und der Beheimatung der Menschen in der gemeinsamen Welt.
Und wenn man das alles nicht als schönen Traum, als bloße Wunschvorstellung, als von jeder Wirklichkeit losgelöste Utopie verstehen will, dann muss man genau hinschauen, was denn aus Sicht des Johannes der Grund dafür ist, dass nach den endzeitlichen Verwerfungen, an denen die Gegenwart damals wie heute bereits Anteil zu haben scheint, das Leben in Gemeinschaft überhaupt weitergehen kann:
Nicht, weil wir es wünschen, weil es schön wäre oder weil die Vorstellung totaler Vernichtung schwer auszuhalten wäre:
Sondern weil diese Welt zugleich die Wohnung Gottes ist, der uns geschaffen und zur Gemeinschaft mit sich berufen hat. Deshalb – und nicht weil wir selber nichts tun könnten oder sollten – kommt die neue Welt von Gott her, aus dem Himmel. Deshalb braucht es auch wieder eine Welt, die zwar neu ist, aber wieder aus Erde besteht und aus Himmel, die wieder einen Raum öffnet für die Begegnungen der Menschen untereinander und die Beziehung zwischen Gott und den Menschen.
Das Wort Heimat kommt im biblischen Text, in seiner deutschen Übersetzung freilich nicht vor. Aber ein anderes Wort taucht an zentraler Stelle auf, gleichsam als Mitte und Sinnbild dieser neuen Erde und dieses neuen Himmels: für die Israeliten seit der Katastrophe des Babylonischen Exils das Wort für Heimat schlechthin, nicht nur im örtlichen, sondern zugleich im kulturellen und religiösen Sinn: Jerusalem, die Stadt Davids, die Stadt des einzigen Heiligtums:
Das zeigt sich etwa, wenn Psalm 137 von der kulturellen Entfremdung und von der Sehnsucht der Deportierten nach ihrer Heimat spricht:
„An den Strömen von Babel,
da saßen wir und weinten, wenn wir Zions gedachten.
An die Weiden in seiner Mitte hängten wir unsere Leiern.
Denn dort verlangten, die uns gefangen hielten, Lieder von uns,
unsere Peiniger forderten Jubel: Singt für uns eines der Lieder Zions!
Wie hätten wir singen können die Lieder des HERRN, fern, auf fremder Erde?“

Heimat kann immer nur ein „Jerusalem“ sein, ein konkreter Ort, eine konkrete Gemeinschaft, selbst in unserem Text aus dem Buch der Offenbarung, in dem die Beheimatung der Menschen in Gott insgesamt in den Blick genommen wird, wie sie in den großen Bildern der Propheten von der Wallfahrt der Völker zum Zion schon vorgezeichnet war.
Deshalb kommt nicht irgendeine neue Welt, sondern die neue Welt ist zugleich das neue Jerusalem, DAS Zeichen für das Wohnen jenes Gottes unter den Menschen, der alle Menschen erschaffen hat und im Leben erhält, der selbst ihre innerste Heimat ist und die „Zuflucht meines Lebens“, wie es in Psalm 27 heißt.
Deshalb wäre es ein so wichtiges Zeichen, wenn auch das reale Jerusalem eine offene Stadt, eine Stadt der Juden, Christen und Muslime, eine Stadt der Religionen wäre. Es ist besonders tragisch, dass die aktuelle Situation im Heiligen Land mit dem Gehalt dieser Visionen nicht nur nicht übereinstimmt, sondern sich Schritt für Schritt weiter von ihr entfernt, besonders jetzt nach den Terroranschlägen in Israel vom 7. Oktober, der Ermordung und Entführung von Zivilpersonen und dem Krieg in Gaza mit seinen katastrophalen Folgen für die Menschen in der Region.
Selbstverteidigung gegen einen bewaffneten Angriff ist – sofern die strengen ethischen Kriterien gerechter Verteidigung erfüllt sind – ethisch legitim und auf kollektiver/staatlicher Ebene sogar geboten. Militärische Maßnahmen allein werden in der sehr komplexen politischen Situation aber keine dauerhafte Lösung bringen. Sie werden jenen Zustand für die Menschen in den betroffenen Gebieten nicht herstellen können, von dem wir im Antwortpsalm ja gerade im Blick auf das Heilige Land gesungen haben: „Es begegnen einander Huld und Treue; Gerechtigkeit und Friede küssen sich“ (Ps 85, 10).
Nicht menschliche Gewalt noch göttlicher Zauber wird die Klage und die Mühsal verschwinden lassen, von der der Text der Offenbarung spricht. Es braucht vielmehr eine Umkehr des Herzens als Geschenk der Gnade, dass wir Menschen uns auf den wahren, gemeinsamen Grund alles Menschlichen und aller Wirklichkeit besinnen, in dem wir Christen den lebendigen Gott erkennen, den Gott Abrahams, den Gott Moses, den Gott Jesu Christi, der Mensch geworden ist und in dem sich die Verheißung der Nähe Gottes erfüllt hat. In ihm gründet unsere Hoffnung, dass Gott selbst alle Tränen von den Augen der Menschen abwischen wird.
Amen.