Widerstand gegen die Staatsgewalt als ethisches Problem

Digitale Bibliothek: Friedensethische Positionen der Kirchen

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http://www.bmlv.gv.at/download_archiv/pdfs/referat_werner.pdf, Stand: 2004-12-03

2004-11-30 - Wien
Österreichisches Militärordinariat
- Werner, Christian, Militärbischof
Widerstand gegen die Staatsgewalt als ethisches Problem. Vortrag auf einer Veranstaltung der Österreichischen Landesverteidigungsakademie "Der Ruf des Gewissens - Widerstand gegen den Nationalsozialismus zwischen 'Walküre' und 'Radetzky'"

1. Einleitung

Die Frage eines Rechts zum Widerstand gegen ungerechte Ausübung staatlicher Macht hat Ethik und Recht seit jeher vor viele und grundlegende Probleme gestellt. Noch viel dramatischer aber sind jene Fragen – buchstäblich Fragen um Leben und Tod – die sich jenen Menschen stellen, die in der politischen Realität wirklich entscheiden müssen, wie sie in einer bestimmten Situation handeln sollen. Es geht dabei ja um Entscheidungen, die nicht nur in sich selbst sehr schwer sind, sie sind auch mit größter Verantwortung verbunden. Die Folgen können nicht nur für die Entscheidungsträger selbst außerordentlich schwerwiegend sein, die Folgen der Entscheidung wirken sich ja auch auf viele andere Menschen aus, nicht zuletzt auf Freunde und Familienmitglieder. Die Last solcher Verantwortung und die Not des Abwägens kann Menschen an ihre Grenzen führen. Die Rede vom Gewissen als letzter individueller Instanz des Entscheidens und der Verantwortung gewinnt in solchen Situationen einen existentiellen Ernst, der mit theoretischen Erwägungen kaum einzuholen ist. Unübersehbar wird dabei jener innerste und tiefste Bereich menschlicher Existenz deutlich, den das Zweite Vatikanische Konzil so anspricht: „Das Gewissen ist der verborgenste Kern und das Heiligtum des Menschen, in dem er allein ist mit Gott, dessen Stimme in seinem Innersten widerhallt“ (Gaudium et spes, 16).

So kommt auch der bedeutende Wiener Rechts- und Sozialphilosoph Johannes Messner am Ende seiner Darlegungen über das Widerstandsrecht (und zwar in seinem Werk „Das Naturrecht“) zu folgendem Schluss: „In der Darlegung der naturrechtlichen Prinzipien des Widerstandsrechtes, besonders des aktiven und gewaltsamen, kann die Sozialethik Situationen nur hypothetisch umschreiben. In der politischen Wirklichkeit selbst sind die Tatsachen und Bedingungen, die für die Anwendung der naturrechtlichen Prinzipien maßgebend sind, meist höchst kompliziert und schwer durchschaubar, außerdem erfordern stark wechselnde politische Situationen oft sehr rasche Entschlüsse. Aus diesen Gründen muß praktisch das meiste der Gewissensentscheidung des einzelnen anheimgestellt bleiben. Die Aufgabe der Ethik ist es, die Schwere der mit solchen Entscheidungen verbundenen Verantwortung zu zeigen und die sittlichen und rechtlichen Prinzipien, die für diese Entscheidungen in Frage kommen, zu entwickeln.“

Das heißt, die Reflexion über ethische Prinzipien kann demnach den Reichtum und die Komplexität konkreter Entscheidungssituationen nicht vollkommen einfangen. Bei allem Bemühen um die möglichst genaue Formulierung ethischer und rechtlicher Grundsätze bleibt die Last der individuellen Gewissensentscheidung in solchen Situationen bestehen. Gerade die Geschichte von Menschen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus zeigt uns dies sehr deutlich.

Dennoch ist es unbedingt erforderlich, über Prinzipien und Grundsätze nachzudenken. In solchen Reflexionen kommen Grundverhältnisse und Grundbeziehungen menschlicher Existenz zur Sprache, werden Bereiche möglichen Handelns abgesteckt und Gewichtungen vorgenommen, die Güter und Werte zueinander in Beziehung setzen. Es ist eben ein entscheidender Unterschied, ob das Verhältnis des Menschen zum Staat als totale Ein- und Unterordnung gedacht oder von den individuellen und sozialen Menschenrechten her entwickelt und aufgebaut wird.

Darüber hinaus verdanken sich Prinzipien oft einem langen und vielfach leidvollen Prozess historischer Erfahrung, den Menschen durchmachen und erleiden, bevor dann als Ergebnis ethische und rechtliche Grundsätze formuliert und tradiert werden können. Die Geschichte der Menschenrechte ist dafür das beste Beispiel. Dass wir heute so selbstverständlich davon ausgehen, dass Würde und Rechte des Menschen Grundlage politischer und rechtlicher Ordnungen sein müssen, beruht auch ganz entscheidend auf den furchtbaren Erfahrungen mit menschenverachtenden diktatorischen und totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts.

Die ethischen Grundprinzipien des Widerstandrechts, wie sie auch in der Katholischen Soziallehre formuliert werden, sind Ausdruck eines solchen theoretischen und praktischen Ringens um die Gestaltung menschenwürdiger politischer und rechtlicher Ordnungen. Die ethische Frage des Widerstandsrechts führt uns deshalb zu Grundfragen politischer Ethik. Es geht dabei um Fragen wie die ethische Begründung und Begrenzung politischer Macht, um die Legitimität von Autorität und die Bedingungen des Gehorsams, und um die ethischen Grundlagen eines allgemein verbindlichen Rechtes als Grundbedingung menschenwürdiger Existenz. Macht kann nicht einfach mit Recht gleichgesetzt werden. Diese Einsicht ist seit der Antike im Rechtsdenken Europas lebendig. Der Satz kann als rein theoretische Aussage gelesen werden, aber in diesem Gedanken steckt – und auch das hat die Geschichte Europas erwiesen – eine ungeheure politische Sprengkraft und eine Dynamik, die Menschen vor Fragen um Leben und Tod führen kann.

2. Widerstand heute – eine paradoxe Situation

Wer heute über das Widerstandsrecht sprechen will, findet sich in einer paradoxen Situation. Wir leben in einem demokratischen, pluralistischen, freiheitlichen Rechtsstaat. Dies bedeutet, dass Widerspruch, Opposition, Widerstand gegen bestimmte Maßnahmen, Kritik der Regierung, Protest in unterschiedlichen Formen, ganz einfach Teil des normalen Prozesses politischer Auseinandersetzung ist. All das ist auch grundrechtlich abgesichert und verfassungsrechtlich garantiert. Rechtlich garantierte Grund- und Freiheitsrechtsrechte und institutionelle Verfahren zur Rechtsdurchsetzung entschärfen politisch wie existentiell die Dramatik der Inanspruchnahme des Widerstandsrechts, wie sie in anderen, undemokratischen, autoritären oder diktatorischen Systemen gegeben ist.

Dies soll uns aber nicht die Augen vor der Tatsache verschließen, dass für viele Menschen auf dieser Welt diese Dramatik noch in vollem Umfang besteht, Menschen, die in vielfacher Weise mit Gewaltherrschaft, Diktatur, Machtmissbrauch und Verfolgung bis hin zum Genozid konfrontiert sind. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind wertvolle, aber auch zerbrechliche Errungenschaften. Freiheit, Demokratie und rechtsstaatliche Institutionen sind nicht einfach politische Gegebenheiten, die ein für allemal garantiert sind. Der Bestand rechtsstaatlicher Demokratien kann zutiefst gefährdet sein, zu ihrer Sicherung und Weiterentwicklung bedarf es eines ständigen politischen und ethischen Engagements, eines Engagements, das eine grundlegende Loyalität zu den demokratischen Grundwerten mit möglichst sachlicher Kritik verbindet und Mitverantwortung für die politische Ordnung mit Zivilcourage und Augenmaß praktiziert.

Vor diesem Hintergrund möchte ich noch zwei Phänomene ansprechen, die in unserer Gesellschaft auftreten und die mit einer bestimmten Interpretation des Widerstandsrechtes zu tun haben. Ich meine damit zunächst einen inflationären Gebrauch des Begriffs „Widerstand“, der jede Aktion des Widerspruchs, des Protestes oder der Unzufriedenheit mit politischen Maßnahmen in unserer Demokratie mit jener Aura umgibt, wie sie etwa die Situation des Widerstands gegen den Nationalsozialismus zu Recht charakterisiert.

Ein solcher inflationärer und unsachgemäßer Gebrauch des Begriffs „Widerstand“ entwertet im Grunde die tiefe existentielle Bedeutung dieses Wortes. Widerstand gegen Diktatur und Gewaltherrschaft ist nicht einfach deckungsgleich mit Opposition und Widerspruch in rechtsstaatlichen Demokratien.

Dazu kommt noch ein weiteres. Es gibt heute auch eine Art von grundsätzlicher Widerstandshaltung gegen ein als ungerecht, übermächtig und undurchschaubar empfundenes ökonomisches und politisches „System“ insgesamt. Grundsätzlicher Widerstand erscheint hier als einzige verantwortbare politische Handlungsoption gegen ein alles durchdringendes und jeden manipulierendes Gewaltsystem, das unsere globalisierte Welt beherrscht. Staaten und Regierungen erscheinen da manchmal geradezu als bloße Marionetten großer wirtschaftlicher Mächte im Hintergrund, die unkontrollierbar sind, aber höchst effizient agieren, und die alles gemäß ihren Macht- und Profitinteressen steuern.

Die Komplexität der ökonomischen, politischen und sozialen Realitäten wird dabei sicher unzulässig vereinfacht. In letzter Konsequenz bleibt hier als einzige Möglichkeit nur ein radikaler, wohl auch gewaltsamer Umsturz der bestehenden Verhältnisse, um zu einer - wie unklar und utopisch auch immer gedachten - besseren Welt zu kommen. Die Fragen allerdings, die hinter solchen Ansichten stehen, sind von höchster Relevanz. Es geht dabei um wirkliche Defizite an weltweiter sozialer Gerechtigkeit und in der Verwirklichung grundlegender Rechte, Defizite, die in z.T. sehr plakativer Weise auf den Punkt gebracht werden. Jedenfalls enthalten diese Fragen grundlegende ethische und politische Herausforderungen für die Staaten und für die Völkergemeinschaft insgesamt, nämlich eine internationale Ordnung aufzubauen, die in der Lage ist, allen Menschen die fundamentalen individuellen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Menschenrechte zu verbürgen.

Im Blick auf unsere modernen demokratischen Gesellschaften gewinne ich den Eindruck, dass wir immer mehr mit einer weiteren Problematik konfrontiert sind, nämlich mit einer verbreiteten Mentalität grundsätzlicher Nichtbeachtung oder Aushöhlung bestehender Regelungen und Vorschriften, auch wenn diese durchaus sinnvoll sind. Dies mag viele Gründe haben: die fortschreitende Individualisierung, das Gefühl, anonymen Apparaten gegenüber zu stehen und zu wenig Mitverantwortung zu haben, den Eindruck, mit eigener Initiative nichts zu bewirken oder auch die populäre Ansicht, dass sowieso alle aus reinem Eigennutz handeln.

Hier steht die Frage einer grundlegenden Haltung der Loyalität und des Gehorsams gegenüber legitimen Ordnungen zur Debatte, auch dann, wenn diese meinen augenblicklichen individuellen Interessen nicht unmittelbar dienlich sind. Ich sehe hier eine wichtige Herausforderung für die ethische wie für die politische Bildung. Politische Mitgestaltung und Mitverantwortung bedeuten immer auch, dass ich in der Lage bin, über das reine Eigeninteresse hinaus das Ganze der politischen Gemeinschaft mit der Vielfalt der Interessen und den Erfordernissen des Gemeinwohls im Blick zu haben.

3. Grundzüge des Widerstandsrechts

Wo das Widerstandsrecht als Grundprinzip politischer Ethik anerkannt wird, sind es die Menschen mit ihrer unverlierbaren Würde und ihren unveräußerlichen Rechten, die im Mittelpunkt des politischen Denkens stehen. Damit werden Ideologien und politische Systeme zurückgewiesen, die furchtbares Unheil über viele Menschen gebracht haben: die Ideologisierung des Staates zur alleinigen und höchsten Quelle von Macht und zugleich von Recht, sowie kollektivistische und totalitäre Ideologien, die den Menschen bedingungslos übergeordneten Einheiten unterordnen, seien dies nun Klassen, Rassen oder Nationen.

Mit der Anerkennung des Widerstandsrechtes wird zugleich mit anerkannt, dass der Staat nicht der letzte Ursprung allen Rechtes ist. Staatliche Macht ist dem gegenüber in ihrer Legitimation und in ihrer Ausübung an eine Rechtsordnung gebunden, die in der personalen Würde aller Menschen und in ihren daraus erfließenden Rechten gründet. Würde und Rechte aller Menschen sind keine Gewährungen des Staates, sondern entspringen der Natur des Menschen als Person, begabt mit Vernunft und Gewissen, berufen zu Freiheit und Verantwortung. Im Blick auf diese normative Idee erhalten die staatliche Ordnung sowie die Aufgaben und Kompetenzen des Staates ihre sittliche Begründung und Legitimation, zugleich aber werden wesentliche Beschränkungen und Grenzen der sittlich legitimen Ausübung staatlicher Macht sichtbar.

Die Katholische Soziallehre bringt dies mit dem Begriff einer Verpflichtung des Staates auf das Gemeinwohl seiner Bürger zum Ausdruck. Es geht dabei im kirchlichen Sprachgebrauch nicht um das „Wohl“ eines Kollektivs oder des Staates als solchen, sondern um eine bestimmte ethische und politische Qualität der staatlichen und politischen Ordnung, nämlich – mit einer Formulierung des Zweiten Vatikanischen Konzils (Gaudium et spes, 26) - „die Gesamtheit jener Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens, die sowohl den Gruppen als auch deren einzelnen Gliedern ermöglichen, die eigene Vollendung voller und leichter zu erreichen“. Der Katechismus der Katholischen Kirche konkretisiert dies durch den Hinweis auf drei wesentliche Elemente des Gemeinwohls (vgl. KKK 1907 – 1909): die Achtung der Personen und ihrer Rechte, das soziale Wohl und die allseitige Entwicklung der Gemeinschaft sowie die Gewährleistung von Frieden und Sicherheit. Grundlegende Aufgabe des Staates ist es daher, „das Gemeinwohl der bürgerlichen Gesellschaft, der Bürger und der kleineren Gemeinwesen zu schützen und zu fördern“ (KKK 1910).

Aus einem solchen Ansatz politischer Ethik folgt logisch und konsequent die Begründung eines Rechtes, sogar einer Pflicht zum Widerstand. Der Katechismus der Katholischen Kirche formuliert dies so (KKK 2242): „Der Bürger hat die Gewissenspflicht, die Vorschriften des staatlichen Autoritäten nicht zu befolgen, wenn diese Anordnungen den Forderungen der sittlichen Ordnung, den Grundrechten des Menschen oder den Weisungen des Evangeliums widersprechen. Den staatlichen Autoritäten den Gehorsam zu verweigern, falls deren Forderungen dem rechten Gewissen widersprechen, findet seine Rechtfertigung in der Unterscheidung zwischen dem Dienst Gottes und dem Dienst an der staatlichen Gemeinschaft“, und hier führt der Katechismus zwei Aussagen aus der Heiligen Schrift an: „Gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott was Gott gehört“ (Mt 22, 21), sowie: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apg 5, 29).

Natürlich sind diese Aussagen nicht als Freibrief für Widerstand aus religiösen Motiven gegen jede strittige Maßnahme oder in jeder Form gedacht. Der Katechismus ergänzt diese Feststellung durch eine weitere Aussage des Zweiten Vatikanischen Konzils: „Wo ... die Staatsbürger von einer öffentlichen Gewalt, die ihre Zuständigkeit überschreitet, bedrückt werden, sollen sie sich nicht weigern, das zu tun, was das Gemeinwohl objektiv verlangt. Sie haben jedoch das Recht, ihre und ihrer Mitbürger Rechte gegen den Missbrauch der staatlichen Autorität zu verteidigen, freilich innerhalb der Grenzen des Naturrechts und des Evangeliums“ (Gaudium st spes, 74).

Die moraltheologische Tradition der Kirche hat in diesen Fragen viel über Bedingungen und Formen des Widerstandsrechts nachgedacht. Das Bemühen dabei war, bei aller Betonung einer grundsätzlichen Pflicht zum Gehorsam gegenüber staatlicher Autorität ebenso die Grenzen dieses Gehorsams und die Rolle des Gewissens zu unterstreichen. Es wurde dabei zwischen passivem und aktivem Ungehorsam unterschieden, d.h. der Weigerung, bestimmten Anordnungen Folge zu leisten, und dem organisierten Widerstand gegen eine Regierung insgesamt, bis hin zur Möglichkeit, im äußersten Fall einen tyrannischen Herrscher zu töten. Ebenso wurde über konkrete Formen des Widerstands nachgedacht, und im Blick auf die Gefahren und Übel gewaltsamer Konflikte die Bedeutung gewaltfreier Formen hervorgehoben. Auch auf Unterschiede in der jeweiligen Verantwortung bestimmter Personen oder gesellschaftlicher Gruppen wurde immer wieder hingewiesen, je nach deren sozialer Stellung, besonderen Kompetenz oder weiter gehenden Verantwortlichkeit.

Jedenfalls wird deutlich, dass sich die kirchliche Lehraussagen und unsere moraltheologische Tradition diesem Thema mit viel Vorsicht und Differenzierung genähert haben. Nach den Erfahrungen der Weltkriege und der totalitären Systeme haben wir heute ein klareres Bewusstsein von der Korrumpierbarkeit staatlicher Macht und von dem Erfordernis einer kritischen Haltung und von Wachsamkeit im politischen Geschehen als dies vielleicht in der Vergangenheit der Fall gewesen ist.

Auch der äußerste Fall des Widerstandrechts, der bewaffnete Kampf, wird in der Soziallehre der Kirche angesprochen. Begründung und Grenzen dieser Form des Widerstandes werden parallel zum Notwehrrecht formuliert:
„Bewaffneter Widerstand gegen Unterdrückung durch die staatliche Gewalt ist nur dann berechtigt, wenn gleichzeitig folgende Bedingungen erfüllt sind: (1) dass nach sicherem Wissen Grundrechte schwerwiegend und andauernd verletzt werden; (2) dass alle anderen Hilfsmittel erschöpft sind; (3) dass dadurch nicht noch schlimmere Unordnung entsteht; (4) dass begründete Aussicht auf Erfolg besteht und (5) dass vernünftigerweise keine besseren Lösungen abzusehen sind“ (KKK 2243).

Auch in dieser schwierigen Frage geht es der Lehre der Kirche darum, Kriterien für das Gewissen verantwortlich handelnder Menschen zu formulieren, sie erhebt nicht den Anspruch, damit fertige Lösungen für konkrete und komplexe Lösungen vorzulegen. Eines wird jedenfalls deutlich: die Rolle des Gewissens und die Frage der Gewissensbildung sind für die Problematik des Widerstandsrechts zentral. Ich möchte daher abschließend noch etwas dazu sagen, und dies im besonderen mit Blick auf die Welt des Militärs.

4. Der Soldat und die Gewissensbildung

Die Frage des Widerstandsrecht gegen staatliche Gewalt bringt im Kontext des Militärs eine besondere Problematik mit sich. Soldaten stehen ja in besonderer Weise im Dienst des Staates und sind ihm gegenüber zu besonderer Loyalität und Treue verpflichtet. Im Militär selbst sind Disziplin, Einordnung und das Prinzip von Befehl und Gehorsam funktional notwendige und das militärische Ethos prägende Haltungen. Dazu kommt heute eine allgemeine gesellschaftliche Tendenz, dass Menschen sich in ihrem Selbstverständnis – bei allem Individualismus - von ihrem effizienten Funktionieren in sozialen Systemen her definieren. Der Bereich eigener moralischer Verantwortung im Gewissen läuft dabei Gefahr, im Druck der Anpassung an immer komplexer werdende Funktionszusammenhängen zu verschwinden. Eine solche Entwicklung wäre gerade für das Militär verhängnisvoll, denn Treue, Loyalität, Befehl und Gehorsam haben eine wesentlich ethische Dimension und stellen immer sittliche Anforderungen an das individuelle Gewissen.

Auch wenn in den Armeen demokratischer Rechtsstaaten die Befehlsgebung und die Gehorsamspflicht wesentlichen ethischen und rechtlichen Einschränkungen unterliegen, so ist doch jeder Soldat auch heute – bei aller Fähigkeit zur Kritik, die natürlich auch Soldaten eignet - durch eine selbstverständliche Haltung der Gehorsamsbereitschaft in seinem Dienst geprägt. Weit stärker war dies in der Vergangenheit der Fall, gerade in der Zeit, mit der wir uns heute auf diesem Symposium beschäftigen, und wir wissen, wie Menschen im militärischen Widerstand mit der Frage des Gehorsams, des Eides und der Tragweite ihrer daraus erfließenden Verpflichtungen gerungen haben.

Eine besondere Rolle in der Geschichte des militärischen Gehorsams spielt der Eid. Von alters her in einen religiösen Kontext eingebunden, nimmt das Ritual der Eidesleistung den Soldaten nicht nur politisch und rechtlich in die Pflicht. Bis Ende des Ersten Weltkrieges schworen auch die Soldaten Österreich-Ungarns ihren Eid „zu Gott, dem Allmächtigen“, wie es einem Staat entsprach, an dessen Spitze ein Monarch stand, der den Titel „Apostolische Majestät“ trug und „von Gottes Gnaden“ regierte. All dies waren auch Elemente des Soldateneides, der ganz einfach die politisch-theologische Staatsauffassung dieser Zeit widerspiegelt.

Moderne säkulare und pluralistische Demokratien können solches nicht allgemein einfordern und verzichten konsequent auf solche ausdrücklich religiöse Bekräftigungen im Eid oder sehen sie als freiwilligen Zusatz vor. Trotzdem lassen auch unsere Angelobungen noch in der Feierlichkeit des Rituals, in der Bedeutung von Symbolen wie der Fahne und besonders im Gebet der Militärseelsorger ihre Herkunft aus einem ursprünglich religiös bestimmten Zusammenhang erkennen.

Es war eine besondere Perfidie des Nationalsozialismus, dass die suggestive Kraft religiöser Symbole und Bezüge ausdrücklich in den Eid auf den Führer aufgenommen wurde. Seit 1934 begann der Soldateneid der Wehrmacht mit den Worten „Ich schwöre bei Gott diesen heiligen Eid“. Wesentlicher Inhalt des Eides war der „unbedingte Gehorsam“ gegenüber dem „Führer des deutschen Reiches und Volkes, Adolf Hitler“. Genau dies, nämlich die Unbedingtheit des Gehorsams, war eine Verkehrung der Intention des traditionellen Eides im Namen Gottes. Denn in der Tradition christlicher Theologie war immer klar, dass es irdischen Machthabern gegenüber keinen schlechthin unbedingten Gehorsam geben kann, stehen doch alle unter dem Gesetz Gottes, und auch der Herrscher ist daran gebunden. Auf dieses übergeordnete göttliche Recht kann sich das Gewissen im äußersten Fall auch berufen.

Vor diesem Hintergrund ist mir als Militärbischof die ethische Bildung unserer Soldaten ein besonderes Anliegen. Auch für Soldaten ist Gewissensbildung heute keineswegs ein Luxus, den man sich nicht mehr leistet, wenn neue Anforderungen zukünftiger Aufgaben viele zusätzliche Ausbildungsgänge erforderlich machen. Gerade diese neuen Anforderungen verlangen Soldaten „mit Wissen und Gewissen“, auch wenn manchmal - in einer zu kurzsichtigen Beurteilung - die Beschränkung auf eine eng gefasste Professionalität nutzbringender und ökonomischer erscheint. Dies, davon bin ich überzeugt, wäre eine verhängnisvolle Fehlbeurteilung jener beruflichen und menschlichen Herausforderungen, die auf unsere Soldaten zukommen. Es gibt über die Vorfälle im Irak hinaus hinreichend Beispiele aus internationalen Einsätzen, aber auch in Vorkommnissen während der Vorbereitung und Ausbildung, die deutlich erkennen lassen, wie rasch Soldaten in bestimmten Situationen in ethisch und rechtlich unannehmbare Verhaltensweisen abgleiten können. Die Militärseelsorge Österreichs möchte sich gerade in diesem Bereich in Zukunft noch stärker einbringen. Auch dazu habe ich vor einigen Jahren mein Institut für Religion und Frieden ins Leben gerufen. Wir sind dies letztlich unseren Soldaten schuldig, die ja die Hauptlast der Anforderungen in künftigen Kriseneinsätzen zu tragen haben werden.

5. Schlussbemerkung

„Der Ruf des Gewissens“, so lautet das Thema unseres Symposiums. Im Zentrum unserer Überlegungen stehen Geschehnisse der Vergangenheit, die uns auch heute noch herausfordern und beschäftigen. Manche Menschen meinen, man könne aus der Geschichte nicht wirklich etwas für heute Gültiges lernen, zu unterschiedlich seien die Zeiten und die Umstände. Ich bin davon überzeugt, dass wir von Geschehnissen wie der Geschichte des Widerstands gegen den Nationalsozialismus wirklich für heute lernen können, aber nur dann, wenn wir - ausgehend von den Erfahrungen dieser Menschen - zu einem klareren Bewusstsein für das hier und heute sittlich Gebotene und Verpflichtende kommen.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit!