Wien, im Dezember 2025
Liebe Schwestern und Brüder!
In dem 1931 erschienenen Buch „Die Religion im Weltkrieg“ findet sich eine
bemerkenswerte Notiz über Probleme religiöser Soldaten mit ihrem persönlichen
Gottesglauben im Ersten Weltkrieg:
„Von großer Bedeutung für die Stellung der Religion in der Seele des Soldaten waren ferner
die durch den Krieg ausgelösten Glaubenszweifel. Die ewigen, peinlichen, mit der Dauer des
Krieges immer häufiger werdenden Fragen nach der Gerechtigkeit Gottes, nach Gottes
Barmherzigkeit, Gottes Liebe. Ob Gott das mit ansehen kann? Ob das überhaupt Gottes Wille
und Zulassung sein kann? Ob Gott nicht das Härteste ist, was es geben kann?“ (126)
Der Autor Erhard Schlund war selbst während der gesamten Dauer des Ersten Weltkriegs als
Feldgeistlicher tätig. Soldaten in dieser größten Seelennot zu helfen, „wenn eine religiös
veranlagte und gottgläubige Seele nicht mehr an Gottes Güte glauben kann“ (127), schien
ihm besonders schwer. Zwar konnte nicht selten einem an Gott verzweifelnden Soldaten
geholfen werden, aber dann kam „irgend ein Ereignis [..], irgend eine Granate, irgend ein
unverständlicher Befehl von oben“ (126) und machte alles noch schlimmer. Da wurde auch
der Seelsorger, der ja diese Erfahrungen mit den Soldaten teilte, immer wieder ganz
persönlich in die Fragen nach dem Sinn des Glaubens, nach der Gerechtigkeit und Güte
Gottes hineingezogen: „Wie oft leckte die Flamme solcher brennender Wunden in der Seele
des religiösen Soldaten auch an die Seele des Priesters heran!“ (126)
Auch für uns ist es unausweichlich, diese Fragen zulassen, um überhaupt die religiösen und
menschlichen Krisen der Soldatinnen und Soldaten sowie unsere eigenen wahrnehmen zu
können. Denn jeder, der seinen Glauben wirklich ernst nimmt, wird mit diesen Fragen
irgendwann in Berührung kommen. Sie stellen sich nicht nur in bewaffneten Konflikten mit
all ihren Folgen, sondern auch bei Naturkatastrophen, bei massiven
Menschenrechtsverletzungen, in Beziehungskrisen, besonders aber, wenn ein geliebter
Mensch stirbt oder schwer erkrankt, wenn wir unsere eigene körperliche, psychische,
moralische Begrenztheit und Verletzlichkeit erfahren.
Die Frage nach Gott war es auch, die den Franziskaner Schlund sehr früh in seiner
Auseinandersetzung mit der Ideologie der aufkommenden Bewegung des
Nationalsozialismus erkennen ließ, dass zu keiner Annäherung oder gar Übereinstimmung
kommen könne. Auch wenn der Einsatz des Einzelnen für Vaterland und Volksgemeinschaft
im Ersten Weltkrieg von ihm durchaus positiv gesehen wird: Dass das Volk, und zwar ein
bestimmtes Volk in der Entgegensetzung zu anderen mehr oder weniger vergöttlicht wird,
ist mit dem christlichen Gottesbild nicht zu vereinbaren.
Auch heute besteht die Gefahr einer Ideologisierung oder politischen Vereinnahmung von
Religion und persönlichem Glauben, nicht nur in autoritär regierten Staaten oder während
bewaffneter Konflikte wie jene im Nahen Osten und in der Ukraine. Aber vielleicht ist unser
Glaube gegenwärtig noch viel stärker durch die neuen technischen Entwicklungen
gefährdet, durch die unser Leben und Arbeiten zunehmend beschleunigt wird. Sie eröffnen
uns ungeahnte Möglichkeiten, liefern uns scheinbar mit Leichtigkeit ein ganzes Universum
an Informationen und können uns mit vielen Menschen oberflächlich in Kontakt bringen.
Dennoch nehmen Vereinsamung und Ausgrenzung in der digitalen Welt zu. Der Einfluss der
sogenannten künstlichen Intelligenz auf den Menschen und seine Gesellschaft wird weiter
zunehmen. Wie wird sie sich auf die Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten auswirken,
die dem christlichen Glauben Nahrung und Halt geben: die Dankbarkeit und Freude über das
Geschenk des Lebens, die Sehnsucht nach Erkenntnis der Welt, nach tiefer
zwischenmenschlicher Begegnung, nach dem ganz Anderen, in dem unser eigenes
unergründliches Wesen geborgen ist und der uns Heimat verheißt über alle Begrenztheit in
dieser Welt hinaus?
In den adventlichen und weihnachtlichen Texten der Liturgie ist viel von der Sehnsucht die
Rede: der gemeinsamen Sehnsucht eines ganzen Volkes nach Freiheit und Frieden, der
Sehnsucht Simeons, der dem Tod schon ganz nahe ist, nach dem zukünftigen Heil, die
Vorfreude Marias auf die von einem Engel Gottes verkündete Geburt eines Sohnes.
Dieser Sohn Gottes, in dem sich für uns Christen die messianischen Verheißungen erfüllt
haben, der den Menschen den Beginn der Herrschaft Gottes zusagt und durch den wir am
meisten erfahren können, wer Gott für uns ist, dieser Jesus war zugleich ein Mensch mit
allem, was unser Leben als Mensch ausmacht: Er wird als hilfloser Säugling geboren, braucht
Zeit, um zu wachsen und „an Alter und Weisheit“ zuzunehmen. Dabei entwickelt sich Jesus
nicht zu einer Art Übermensch mit Superkräften, sondern er bleibt ein Mensch wie wir, fühlt,
leidet, ist manchmal ungeduldig oder zornig über Missstände, trauert um einen
verstorbenen Freund und kennt das Gefühl äußerster Verlassenheit angesichts des Todes.
Und am Ende ereignet sich die Erlösung aus der Verstrickung der Menschen in Schuld und
Gewalt nicht durch die göttliche Vernichtung oder Bestrafung der Widersacher und Sünder,
sondern durch das stellvertretende Erleiden ungerechter Gewalt bis zur Hingabe des
eigenen Lebens.
Warum wir Menschen uns hingegen immer noch kaum aus dieser Verstrickung lösen können
oder wollen, war nicht nur für viele Soldaten in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs
so schwer verständlich. Sie liegt im Geheimnis unserer Freiheit begründet und damit letztlich
immer auch im Geheimnis des ganz Anderen, der uns als sein Abbild erschaffen und die
Freiheit zum Guten eröffnet hat, der aber auch ein Scheitern in Freiheit zulässt.
In diesen Tagen denke ich besonders an unsere Soldaten im Einsatz, die in verschiedenen
Konfliktregionen auch an den Weihnachtsfeiertagen an der Eindämmung dieser Option der
Gewalt mitarbeiten – als Diener jenes „Friedens auf Erden“, den die Engel in der großen
Vision des lukanischen Weihnachtsevangeliums den einfachen Hirten auf dem Feld
verheißen haben.
In diesem Sinn wünsche ich Ihnen allen ein frohes und friedvolles Weihnachtsfest!
+ Werner Freistetter
Dr. Werner Freistetter
Militärbischof für Österreich