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Predigt von Dr. Christoph Kardinal Schönborn

St. Stephan, 13. März 2007


Es gilt das gesprochene Wort!

Eure Heiligkeit!
Verehrter Metropolit Michael!
Liebe Mitbrüder im bischöflichen Amt!
Liebe Brüder und Schwestern!

77 Mal soll ich verzeihen! Ein unmögliches Programm! Eine völlige Überforderung. Spätestens nach 7 Mal reicht es mir. Einmal ist es genug, einmal hat alles ein Ende! Einmal geht einem die Kraft aus, nochmals zu verzeihen. Schluss, Ende, Punktum! So enden unsere Beziehungen. So gehen die Ehen auseinander. Weil es einfach einmal zu viel ist. Weil jeder vernünftige Mensch sagt: Jetzt reicht es! Du kannst dir doch nicht alles gefallen lassen. Wo kommst du da hin, wenn du einfach immer nur verzeihst. Das wird dir früher oder später als Schwäche ausgelegt. Wenn du nicht "Stop" sagst, wird es noch schlimmer.
Wenn du immer verzeihst, wird der andere nur übermütig, du wirst ausgenützt, du bist der Dumme, du wirst sogar noch mitschuld an den Fehlern des anderen, wenn er sich daran gewöhnt, dass du ja immer verzeihst.

Macht das Evangelium lebensuntüchtig? So gelingt sicher nicht "the survival of the fittest", das Überleben des Stärkeren. Genauer: So überleben nur die Stärkeren, die Rücksichtslosen, die, die mit der Dummheit und Schwäche des anderen rechnen, weil er ja von seinem Christsein angehalten wird, immer zu verzeihen!

Leben wir deshalb das Evangelium nur halb, weil es ganz zu leben einfach nicht geht? Ist es eine Utopie, die als Lebensgrundlage für eine Gesellschaft nicht geeignet ist? Meint das Evangelium Jesu vielleicht einen Rat, den wohl der Einzelne zu leben versuchen kann, der aber sicher nicht geeignet ist, das "normale" Zusammenleben der Menschen zu regeln?

Die Frage stellt sich nicht nur für das gesellschaftliche Leben, sondern auch für das Miteinander der Christen. Kann Ökumene so gelebt werden, wie es das heutige Evangelium ausspricht? Müssen wir alle die vielen Lasten, die die Geschichte zwischen uns angehäuft hat, noch und noch vergeben, endlos, 77 Mal? Ist das lebbar? Ist das nicht auch eine Überforderung?

Heute, da wir eines der Großen der christlichen Ökumene gedenken, meines Vorgängers Kardinal Dr. Franz König, und da wir Seine Heiligkeit, dem Ökumenischen Patriarchen mit dem Namen und im Geist von Kardinal König für sein Bemühen - oft unter schwierigsten Bedingungen - um die Ökumene danken dürfen, ist es gut und recht, uns der ganzen Wucht der Frohen Botschaft auszusetzen und den Heiligen Geist, den Geber aller Gaben Gottes, zu bitten, dass das Evangelium Jesu uns bis ins Innerste erfasst und mit seiner Kraft erfüllt.

Dazu lädt uns die Kirche heute ein. Sie, die uns das Evangelium schenkt und lehrt, in der Form eines großen Bußgebetes. Es ist ein Gebet inmitten der größten Bedrängnis. Im Feuerofen, im heidnischen Babel, betet Asarja nicht gegen seine Verfolger. Er bittet nicht Gott um Rache gegen die, die ihn mit seinen Glaubensgenossen in den Tod schicken wollten. Das große Paradox dieses Gebetes ist die Bußgesinnung. Nicht die bösen Babylonier, die Feinde unserer Religion, sind an all unseren Nöten schuld: "Wir haben gesündigt und durch einen Treubruch gefrevelt und haben in allem gefehlt", so betet Asarja im Feuerofen (Dan 3,29). All das Unrecht, das wir erleiden, haben wir verdient. "Du bist gerecht in allem, was du getan hast. All deine Taten sind richtig, deine Wege gerade. All deine Urteile sind wahr" (Dan 3,27).

Wie sollten wir bei diesen Worten nicht an das erschütternde Gebet von Papst Johannes Paul II. vor dem großen Kreuz in St. Peter denken, am 1. Fastensonntag des Heiligen Jahres 2000?

Das Tor des Evangeliums ist die Selbstanklage, der "penthos", die "katharsis", die Reue und die Zerknirschung, die erst in der Erkenntnis der eigenen Sünden erwachen. "Wir haben gesündigt!" Durch dieses Bekenntnis tritt die Frohe Botschaft in unser Leben! Denn diese Einsicht in die eigene Schuld ist nur möglich durch die ihr vorausgehende Erfahrung der Rettung. Im Feuerofen erfahren die drei Jünglinge, dass Er sie rettet. Die Erfahrung der erbarmenden Liebe Gottes öffnet die Herzen zur tiefen Reue und Umkehr.

"Versag uns nicht dein Erbarmen! … Wir kommen mit zerknirschtem Herzen und demütigendem Sinn." Dieses reumütige Herz wird offen für die Wahrheit. Wie ist denn unsere Lage wirklich in der Welt? Genau so, wie Asarja sie im Gebet beschreibt: "Ach, Herr, wir sind geringer geworden als alle Völker. In aller Welt sind wir heute wegen unserer Sünden erniedrigt. Wir haben in dieser Zeit weder Vorsteher noch Propheten und keinen, der uns anführt …" (Dan 3,37-38).

Die Wahrheit ist lebbar. Die Lüge nicht. Die Selbsttäuschung ist kein gangbarer Weg. Ist das Evangelium lebbar? Müssen wir nicht anders fragen? Ist ein anderer Weg als das Evangelium lebbar? Ist der Anfang allen lebbaren Lebens nicht, dass uns ein umfassendes Ja zugesagt ist? Ein nie einholbares, unerschöpfliches Erbarmen, ein Wohlwollen ohne Grenzen? 10.000 Talente - eine Summe, die einem großen Staatsbudget entspricht - schuldet "der Mensch". Was uns geschenkt ist, kann nie ein Verdienst einholen. Unsere Geschöpflichkeit ist eine uneinholbare Vorgabe, ein Übermaß an Zuwendung, ein Erbarmen, das keine menschliche Großherzigkeit je auch nur annähernd einholen kann. Was sind dagegen unsere armseligen 100 Denare, die wir einander schulden? Wie können wir die totale Disproportion zwischen Gottes maßloser Vorgabe und unseren kleinen Konflikten so wenig erkennen? Wie können wir so völlig an der Realität vorbei leben?

Nicht das Evangelium ist irreal, sondern wir. Nicht die Forderung Jesu, 77 Mal zu verzeihen, ist utopisch, sondern unsere Kleingeisterei, mit der wir beckmesserisch unsere Gerechtigkeit einfordern!

Das Evangelium fordert nicht einen utopischen Staat ohne Gerechtigkeit, nicht einen Verzicht auf jedes Maß zwischenmenschlichen Ausgleichs, sondern vielmehr gibt es uns die richtigen Maße vor: Vor aller menschlichen Gerechtigkeit steht das Vorzeichen unserer Ungerechtigkeit. Über allen menschlichen Forderungen uns ihrer relativen Berechtigung steht das absolute Maß der göttlichen Barmherzigkeit. Sie ist, so erinnert uns Papst Johannes Paul II., im Anschluss an die Heilige Schwester Faustyna, den Heilige Thomas von Aquin und die große christliche Tradition, das größte aller Attribute Gottes. Sie ist deshalb auch das Maß aller menschlichen Vollkommenheit, und damit aller gelungenen Menschlichkeit, und der wahre Horizont, vor dem alles Zusammenleben der Menschen erst den Namen "menschlich" verdient:

"Seid vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist" (Mt 5,48) und Jesus erklärt selber, was das heißt: "Seid barmherzig, wie euer himmlischer Vater barmherzig ist" (Lk 6,36).