Sebastian von Mailand, ein Name, der seit dem 3. Jahrhundert untrennbar mit Glaubensfestigkeit und Leidensbereitschaft verbunden ist, hat im Lauf der Jahrhunderte zahlreiche Rollen angenommen. Seine Transformation von einem Märtyrer der frühen Christenverfolgungen zu einer vielschichtigen Figur der Kunst, Kultur und sogar der queeren Bewegung ist bemerkenswert und erzählt eine Geschichte, die weit über die Grenzen der Kirche hinausreicht.
Ein Märtyrer des Glaubens
Sebastian war ein angesehener Hauptmann der Prätorianergarde am Hofe der römischen Kaiser Diokletian und Maximilian. Trotz seines militärischen Erfolgs verbarg er seine christliche Überzeugung nicht, sondern nutzte seine Stellung, um verfolgten Christen beizustehen und selbst Mitglieder der römischen Oberschicht zu bekehren. Als seine wahre Gesinnung ans Licht kam, wurde er vom Kaiser vor Gericht gestellt und zum Tode durch Pfeile verurteilt. Obwohl er diesen qualvollen Angriff überlebte, wagte er es, den Kaiser erneut öffentlich zu konfrontieren. Dieses zweite Martyrium führte schließlich zu seinem endgültigen Tod durch Geißelung.
Sebastians Tod und die Legenden um sein Martyrium begründeten seinen frühen Kult. Bereits im 4. Jahrhundert wurde ihm eine Basilika über seinem Grab errichtet, was seine Bedeutung als dritter Schutzpatron Roms nach Petrus und Paulus unterstreicht.
Der Aufstieg zum Pestheiligen
Im Mittelalter erfuhr der Kult um den heiligen Sebastian eine neue Dimension. Die Pest, oft als göttliche Strafe interpretiert, suchte Europa heim, und die Gläubigen suchten Schutz und Heilung bei Sebastian. Seine Darstellung als Überlebender von Pfeilen, die Seuchen symbolisierten, machte ihn zur Hoffnungsträger gegen die Pest. Berichte von wundersamen Heilungen trugen zur Verbreitung seines Kultes bei, und die Kunst der Renaissance begann, ihn als schönen, unversehrten jungen Mann zu inszenieren – ein Abbild körperlicher Vollkommenheit, das Heilung und Gnade versprach.
Eine neue Ikone entsteht
Im 19. Jahrhundert wandelte sich Sebastians Bild erneut. Die homoerotische Ästhetik seiner Darstellung in der Renaissance fand Anklang bei homosexuellen Künstlern und Intellektuellen. Seine anmutige Darstellung im Leiden bot eine Projektionsfläche für die schmerzvollen Erfahrungen von Diskriminierung und Unterdrückung. Dichter wie August von Platen und später auch Oscar Wilde identifizierten sich mit Sebastian als einem Symbol des leidenschaftlichen, jedoch gesellschaftlich geächteten Begehrens.
Sebastian und die AIDS-Bewegung
In den 1980er Jahren, während der AIDS-Krise, wurde Sebastian zu einer zentralen Figur für Aktivisten und Künstler, die die Stigmatisierung und den Ausschluss von HIV-positiven Menschen anprangerten. Künstler wie David Wojnarowicz nutzten die Ikone Sebastian, um die gesellschaftliche Grausamkeit gegenüber AIDS-Kranken zu kritisieren. Seine Werke, in denen er Sebastian als Protestfigur einsetzte, sind heute bedeutende Zeugnisse einer Zeit, in der Krankheit und Ausgrenzung eine ganze Generation prägten.
Die Kirche und die moderne Rezeption
Die katholische Kirche steht dem modernen Bild Sebastians weitgehend distanziert gegenüber. Die queere Rezeption und die Rolle Sebastians in der Kunst und Aktivismus werden oft nur am Rande erwähnt. Doch gerade in diesen neuen Kontexten lebt die Figur des heiligen Sebastian weiter – als Symbol für den Kampf gegen Ungerechtigkeit, für Heilung und für die Freiheit, seine Identität zu leben.
Ein Fazit
Der heilige Sebastian, einst ein Märtyrer des frühen Christentums, hat sich zu einer vielschichtigen Symbolfigur gewandelt. Er steht nicht nur für Glaubensfestigkeit, sondern auch für die universellen Kämpfe um Akzeptanz, Identität und Gerechtigkeit. Sebastians Geschichte ist eine Erzählung von Transformation, die zeigt, wie sich religiöse Figuren in einem neuen Licht und Kontext neu interpretieren lassen.
Grundlage dieses Beitrages ist das bei Herder 2023 erschienene Buch zum hl. Sebastian von Stephanie Höllinger und Stephan Goertz mit dem Titel "Sebastian. Märtyrer – Pestheiliger – queere Ikone".