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Meyer: 19 Monate in russisch-sibirischer Kriegsgefangenschaft

19 Monate in russisch-sibirischer Kriegsgefangenschaft 19 Monate in russisch-sibirischer Kriegsgefangenschaft

Von seiner mehr als eineinhalbjährigen russischen Kriegsgefangenschaft während des Zweiten Weltkriegs erzählt der deutsche katholische Divisionspfarrer Josef Clemens Meyer in einer noch während des Krieges im Selbstverlag erschienenen Broschüre. In recht lebendiger, gut lesbarer Sprache zeichnet sie seine Erlebnisse und Erfahrungen von der Gefangennahme bis zur Rückkehr nach Deutschland nach.

Obwohl Meyer mit dem roten Kreuz gekennzeichnet ist und als Militärseelsorger einer völkerrechtlich besonders geschützten Personengruppe angehört, worauf er in der Folge gegenüber den russischen Bewachern wiederholt, aber erfolglos hinweist, wird er während eines Gefechts Ende November 1914 von russischen Truppen als Kriegsgefangener zusammen mit Schwerverwundeten, bei deren Versorgung er gerade mitgeholfen hatte, abtransportiert und im Rahmen eines wochenlangen Eisenbahntransports nach Sibirien verbracht.
Während der erste Teil der Reise durch das europäische Russland für die Offiziere noch relativ erträglich und die Behandlung vergleichsweise freundlich ist, erlebt der Geistliche die Fahrt durch Sibirien in einem Eisenbahnwagen vierter Klasse aufgrund der Kälte, der unbequemen Wagenausstattung, der zunehmenden Plage durch Ungeziefer und der Halbierung ihres Taggelds, mit dem die Gefangenen für ihre Verpflegung selbst sorgen müssen, als zunehmend qualvoll. Meyer vergisst freilich nicht darauf hinzuweisen, dass die Lage für die Mannschaften, also den bei weitem größeren Teil der Gefangenen, die in Viehwagen transportiert werden und viel weniger für ihre Verpflegung erhalten, noch um einiges bedrohlicher war. Wirklich schlimm wurde aber erst der Rest des Winters, den Meyer großteils zusammen mit den kriegsgefangenen Ärzten im Militärspital in Krasnojarsk verbringt: kaum genießbares Essen, über Monate zurückgehaltenes Taggeld, Ausschreitungen betrunkener Kosakenoffziere und vor allem die mangelhaften hygienischen Zustände, die die Ausbreitung von Krankheiten begünstigen. Allerdings ist die Bewegungsfreiheit zunächst nicht schlecht, Meyer erhält mit den Ärzten Ausgangserlaubnis ohne militärische Bewachung. Schließlich erkrankt auch er an Fleckfieber, überlebt aber in einer anderen Einrichtung und kehrt wieder ins Militärspital zurück. Die Lage bessert sich, als er in ein Gefangenenlager außerhalb der Stadt verlegt wird, bei dem die deutschen und österreichischen Kriegsgefangenen, unterstützt durch Hilfslieferungen aus der Heimat, sich unter Leitung der Offiziere großteils selbst organisieren können. Auf diese Weise gelingt es, Krankheiten zurückzudrängen und die Sterberate im nächsten Winter 1915/1916 drastisch zu senken. Ausgänge in die Stadt sind jetzt allerdings nicht mehr möglich. Die Ausführungen Meyers konzentrieren sich nun auf die Anprangerung der Ineffizienz und Korruption der russischen Wachmannschaften bzw. Behörden, von den persönlichen Geschenklieferungen kommt so nur wenig bei den Gefangenen an. Besonderes Lob hat er für das schwedische Rote Kreuz übrig, dessen Mitarbeiter u.a. eine umfangreiche Hilfslieferung in ihr Lager begleiten und die Verteilung an die einzelnen Kriegsgefangenen persönlich vornehmen. Bei der Lektüre jener Passagen, in denen recht grundsätzlich Korruption, Ineffizienz der Verwaltung und Faulheit bzw. der allgegenwärtige Schmutz abgeurteilt werden und immer wieder darauf hingewiesen wird, dass es das auf deutscher Seite nicht gebe, muss man stets mitbedenken, dass Russland zur Zeit der Abfassung der Schrift noch Kriegsgegner war, sie der Zensur des Kriegspresseamts unterlag (vgl. den Zensurvermerk auf Seite [2]) und aus der Intention heraus veröffentlicht wurde, den Willen der deutschen Bevölkerung zu humanitärer Hilfe für die Kriegsgefangenen in Sibirien zu wecken ([3]). Gegen Ende der Schrift berichtet Meyer unter Berufung auf einen Zeitungsbericht in diesem Sinn auch ausführlich über die extrem grausame Ausbeutung von Kriegsgefangenen, die beim Bau der Olonetz-Murman-Bahn eingesetzt sind oder in den General Dubnitzki unterstehenden Förstereien arbeiten müssen. Mit der von ihm selbst erlebten Behandlung als Offizier hat das relativ wenig zu tun.
Über spezifisch militärseelsorgliche Aktivitäten erfährt man nicht viel, außer dass er die Kranken regelmäßig besucht und Gottesdienste (an Sonntagen) entsprechend den Möglichkeiten in Gefangenschaft hält. Mit dem lokalen polnischen Pfarrer in Krasnojarsk, dessen Pfarrgebiet größer ist als das gesamte deutsche Reich, versteht er sich sehr gut, feiert in der Kirche zunächst einige Gottesdienste, die aber bald „wegen der Ansteckungsgefahr für die Stadtbewohner“ (39) verboten werden. Auch später im Gefangenenlager wird seine seelsorgliche Tätigkeit vielfach behindert, sei es durch Antretenlassen der kriegsgefangenen Offiziere inkl. Meyer just am Sonntagvormittag, sei es durch Schikanen in Bezug auf den Gottesdienstraum: Eine eigentlich bereits fertiggestellte Lagerkirche darf Meyer den ganzen Winter über nicht benutzen, stattdessen findet der Gottesdienst in der polnischen Lagerkantine statt, „während in den Nebenräumen der Wirtschaftsbetrieb weiterging“ (67). Ein späteres Ansuchen, auch Kriegsgefangene in weiter östlich gelegenen Lagern ohne deutschen Geistlichen zu besuchen, wird abgelehnt. Meyer vermutet, dass die Russen fürchten, er „könnte dort überall zu viel sehen und – spionieren“ (83). Tatsächlich wird ein österreichischer Feldgeistlicher, dem man eine ähnliche Reisetätigkeit erlaubte, nach deren Beendigung wegen Spionageverdachts vorübergehend verhaftet. (Georg Wurzer, Katholische Militärseelsorge unter den Kriegsgefangenen in Russland im Ersten Weltkrieg, in: Militärseelsorge Dokumentation 2001-2002, 337-361, hier 348)
An einer der wenigen Stellen, in der Meyer inhaltlich seelsorgliche Themen berührt, räumt er ein: „Liturgische Formeln und Vorschriften können natürlich unter den gegebenen Umständen nicht innegehalten werden.“ (40)
Im Gegensatz zu anderen Geistlichen, die sich für einen Verbleib bei den Kriegsgefangenen in Sibirien entscheiden (vgl. Wurzer, 343), versucht Meyer von Anfang an durch diverse Gesuche seine Freilassung zu erreichen – zunächst vergeblich. Als ihm am Gründonnerstagabend von einem betrunkenen russischen Fähnrich seine Freilassung im Rahmen eines Gefangenenaustauschs angekündigt wird, kann er es kaum glauben. (84) Tatsächlich ist sonst kein Gefangenenaustausch von Geistlichen aus Sibirien belegt (Wurzer, 346). Meyer ergreift die Gelegenheit, nach einer längeren Wartezeit in Petrograd kann er endlich nach 19 Monaten Kriegsgefangenschaft über Finnland ins neutrale Schweden einreisen und engagiert sich in der Folge, wie das Schlusswort verrät, in der Kriegsgefangenenhilfe.
Am 25. Februar 1927 stirbt er im Alter von 57 Jahren in Miesbach.

Josef Clemens Meyer: 19 Monate in russisch-sibirischer Kriegsgefangenschaft. Erlebnisse eines deutschen Divisionspfarrers im Weltkrieg 1914-16, Köln [1917], 96 Seiten, Sprache: Deutsch
MBBA Buchnummer: 9769

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