Bezüge auf rezente sicherheitspolitische Problemstellungen bzw. militärethische Diskussionen kann man sich von diesem Werk also nicht erwarten, zumal der Autor als wichtigsten Gewährsmann seiner Ausführungen einen mittelalterlichen Theologen anführt: Bei Thomas von Aquin sei alles Wesentliche in diesem Buch bereits gesagt, wie er im Nachwort zur Ausgabe von 1992 schreibt (149).
Bocheński gesteht dort auch zu, dass er viele Einzelheiten nun (1992) anders sehe als zu der Zeit, als er die Texte verfasst hat, vor allem was den Begriff und einige andere theoretische Aspekte der Ethik betreffe. Bezüglich der militärischen Praxis sei sein Konzept allerdings unverändert, „denn die praktischen Hinweise beziehen sich auf grundlegende Elemente der menschlichen Natur selbst, die sich nicht verändert.“ (149).
Bocheński konzentriert sich nach einer Begründung der moralischen Zulässigkeit soldatischen Handelns und der Pflicht dazu vor allem auf klassische tugendethische Fragen rund um die Begriffe Rechtschaffenheit, Tapferkeit und Gehorsam und lässt diesen Ausführungen am Ende ein Kapitel zur Handlungstheorie folgen („Theorie der Kampfentscheidung“).
Dass der Umgang mit Begriffen wie Ehre, Heldentum, Kameradschaft, Vaterlandsliebe und Gehorsam dabei anders akzentuiert ist als in militärethischen Ansätzen nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute, ist natürlich nicht weiter verwunderlich. Auch die enge und selbstverständliche Verschränkung von ethischer und theologischer Perspektive, wie sie etwa in den Sätzen „Jede Person sollte einen vollumfänglichen, menschlichen und christlichen Charakter besitzen.“ (14) oder „Für den Soldaten äußert sich Gotteswille geradewegs durch Ehre.“ (31) zum Ausdruck kommt, könnte heute auch im theologischen Bereich nicht mehr mit dieser Selbstverständlichkeit formuliert werden. Viele weitere Akzente würde man heute anders setzen: So etwa in der Frage, ob Soldaten die Unrechtmäßigkeit eines Krieges einsehen können: Bocheński ist der Ansicht, dass der Soldat „beinahe immer mit reinem Gewissen in den Kampf geht“ und nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht hat, „zu gehorchen und zu kämpfen“ (24). Sollte ein Krieg unrechtmäßig sein, liege die Verantwortung für die Beteiligung daran ausschließlich bei den Regierenden. Nur bei völliger Offensichtlichkeit seiner Unrechtmäßigkeit wäre das Gewissen der Soldaten gefordert.
Dennoch lohnt sich eine Auseinandersetzung mit Bocheńskis Ansatz aus mehreren Gründen: Erstens ist sein militärethisches Denken historisch interessant, weil trotz des Ausgangs von zeitlosen Prinzipien die zeitliche (nach den Erfahrungen des Ersten und noch vor jenen des Zweiten Weltkriegs) wie die nationale Situiertheit (Polen und das polnische Militär) die Formulierungen zumindest indirekt mitgeprägt haben. Zweitens handelt es sich bei Bocheński um einen philosophisch nicht unbedeutenden Autor, er lehrte Logik in Krakau, Rom und nach dem Krieg als Professor für neuzeitliche und zeitgenössische Philosophie an der Universität Fribourg und genoss als Spezialist für die Geschichte der Logik sowie für sowjetische Philosophie internationales Ansehen. Sowohl diese Spezialisierung in Logik sowie seine Verwurzelung in neuscholastischem Denken haben sicher ihren Beitrag zur sehr dichten und differenzierten Argumentation im vorliegenden Buch beigetragen. Dennoch wird das Buch wegen des Fehlens jeglicher Bezüge auf den aktuellen Stand der militärethischen Diskussion wohl nicht allzu viele Leser finden.
Bocheński, Joseph M.: Militärethik im Überblick. Aus dem Polnischen übersetzt und mit einem Vorwort versehen von Barbara Ruppik und mit methodologischen Anmerkungen von Kornelius Politzky, Bad Sassendorf 2018, 161 Seiten, Sprache: Deutsch
Buchnummer MBBA: 16.617