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Die Frömmigkeit der deutschen Kriegslyrik Die Frömmigkeit der deutschen Kriegslyrik

1917, noch mitten im Ersten Weltkrieg, veröffentlichte der junge deutsche Theologe Otto Herpel eine sehr umfassende wissenschaftliche Untersuchung über „Die Frömmigkeit deutsche Kriegslyrik“ während dieses Kriegs.

Das sei aus seiner Sicht bereits vor Kriegsende möglich, weil die lyrische Produktion massiv nachgelassen habe und kaum Neues zu erwarten sei. Selbst wenn ein arrivierter Autor wie Gerhard Hauptmann noch nachträglich eine Sammlung von Gedichten veröffentlichte, würde das seiner Ansicht nach an den Ergebnissen nichts ändern. Herpel sah sich dabei mit zwei größeren methodischen Problemen konfrontiert: erstens die ungeheure Masse an einschlägiger Lyrikproduktion: Man habe sie, so Herpel, „allein für den Monat August 1914 auf einundeinehalbe Million berechnet.“ (VI) Er konnte zwar auf schon bestehende Sammlungen von Lyrik mit gewissem ästhetischem Wert zurückgreifen, wollte aber auch Gedichte offenkundiger „Dilettanten“ nicht außer Acht lassen, die einzubeziehen waren, sofern ein eigener Ton anklingt. Zweitens musste er in seiner Analyse einen Quer- sowie trotz der kurzen Zeitspanne auch einen Längsschnitt versuchen, weil sich die Lyrikproduktion im Lauf der drei Jahre markant veränderte.
Herpel sieht seine Untersuchung nicht als rein akademische Behandlung eines unbedeutenden Seitenthemas, sondern weil sich jeder Lyriker „in seinen Gedichten irgendwie mit der Welt“ auseinandersetzt, jede Lyrik „zeitgeschichtlich bedingt und bedingend“ und Kriegslyrik insbesondere „mit dem Kriegserlebnis des gesamten Volkes verwachsen“ sei, könne niemand „diesem Kriegserlebnis psychologisch gerecht werden“, „wenn er nicht auch die Kriegslyrik ausdrücklich berücksichtigt“. (alle V-VI)
Herpel setzt mit einer möglichst genauen Klärung der Bedeutung von Frömmigkeit an, die vor allem mit der Annahme eines von einem obersten sinngebenden Wert bestimmten Wertzusammenhangs her definiert wird. Als sinngebende Werte im Kontext des Krieges nennt er durchaus affirmativ und mit entsprechendem Pathos das Vaterland, das deutsche Wesen, das „schlechthiniger Idealismus, Begeisterung für das rein Ideale und dessen Selbstwert, für das moralische Gesetz und überhaupt alle ethisch-religiösen Werte“ sei. (13) Dazu gesellt sich berechtigter Zorn angesichts der Gegner, die diese Gesinnung, den höchsten Sinn des sittlichen Lebens, anzutasten wagen (14). Hass auf die Feinde bzw. persönliche Vergeltung lehnt Herpel allerdings als den (universalen) Idealen unangemessen ab.
Besonders kommt die Begeisterung für diese Werte bei den von ihm so bezeichneten „Dichtern des sittlichen Ungestüms“ zum Ausdruck, denen zu Kriegsbeginn der Großteil der dichterischen Produktion zuzurechnen ist und zu denen er etwa so bekannte Autoren wie Richard Schaukal oder Rudolf Alexander Schröder zählt (45). Gott ist für diese Gruppe vor allem der „Hüter dieses Idealismus“, der folglich „in engster Verbindung mit dem deutschen Volke“ steht. (159)
Im Lauf des Krieges verliert sie allerdings zunehmend an Bedeutung. Eine erste Abschwächung erfolgte durch christliche Dichter, für die der Krieg „Volks- und Weltgericht zur Entsühnung der Menschheit“ (159) ist.
Ausdrücklicher Widerspruch gegen den Krieg erhob sich schließlich aus dem Erleben des Feldsoldaten, durch eine Gruppe ästhetisch-monistischer Dichter aus sozialdemokratischem Umfeld sowie durch christliche Dichter, die sich am „Widerstreit zwischen dem Glauben an die göttliche“ bzw. „der Verpflichtung zur menschlichen Liebe“ und „der übersittlichen Notwendigkeit des Krieges“ abarbeiteten und im Opfer die einzig mögliche versöhnende Tat sahen. (159)
Herpel würdigt alle diese Zugänge: Die Verdienste der Dichter des sittlichen Ungestüms zu Beginn des Krieges seien von weltgeschichtlicher Bedeutung, die ästhetisch-monistische Frömmigkeit habe sich im Krieg behauptet und eine Reihe beachtlicher Dichterdenker aus der sozialdemokratischen Arbeiterschaft hervorgebracht. Auch das Christentum sieht er gestärkt, allerdings nur dort, wo es auch schon vor dem Krieg stark war, auch es habe „in diesem Krieg neue überzeugte Dichter gefunden“ (160), in hervorragendem Maße ebenfalls aus der Arbeiterschaft, wobei er besonders Heinrich Lersch hervorhebt. Überhaupt seien die Katholiken unter den christlichen Kriegslyrikern von größerer Bedeutung, während die Stärke des Protestantismus (wie schon früher) im kirchlichen Volksgesang liege (161), Herpel nennt den Österreicher Mühlpforth als zu dieser Zeit herausragenden Vertreter (126). Den religiösen Einfluss der „anerkannten Dichter von den Romantikern bis Dehmel“ schätzt Herpel hingegen als am geringsten ein (162). Immerhin ein paar Seiten widmet er Rainer Maria Rilkes „Fünf Gesängen“, sprachlich vielleicht das bedeutendste zitierte lyrische Werk.
Es stellt einem friedlichen Gott einen plötzlich auftauchenden Kriegs- oder Schlachtgott gegenüber. Herpel sieht darin keine neue Religion angedeutet, wie immer wieder behauptet werde, der Kriegsgott sei wohl bloß Projektion des kriegerischen Ungestüms, Symbol für menschliches Erleben und deshalb für seine Untersuchung wenig relevant. (31ff)
Der christliche Gottesglaube wird in der Kriegslyrik des Ersten Weltkriegs kaum irgendwo angetastet oder bezweifelt. Die „einzig wertvolle Kritik“ (112) findet Herpel bei Agnes Miegel. In ihrer Ballade „1915“ bedanken sich die Geister der Elemente bei Gott für die großen Menschenopfer, die er ihnen gewährt, Gott erscheint von den Bitten der Menschen ungerührt und undurchschaubar.
Interessant ist, dass das heute vielleicht bekannteste deutschsprachige Gedicht über eine Schlacht im Ersten Weltkrieg, Georg Trakls „Grodek“, das bereits 1915 in der renommierten Zeitschrift „Der Brenner“ veröffentlicht worden war, wie dessen Autor keine Beachtung fand.
Herpel, der von 1913–1917 als lutherischer Pfarrer im kleinen Dorf Lißberg eingesetzt war und 1916 den Erzählband „Das Dorf auf dem Hügel“ über die indirekten Auswirkungen des Krieges in einer ländlichen Gegend veröffentlicht hatte, wurde 1917 als Garnisonspfarrer nach Metz berufen und hat sich dort offenbar dem Pazifismus zugewandt. 1918 wurde er in den Osten nach Posen versetzt. 1921 war er wieder Pfarrer in Lißberg, ein Jahr später Gymnasiallehrer in Offenbach am Main. Er stand mit Eberhard Arnold und Karl Barth in Kontakt und wurde zu einem Mitbegründer der christlich-sozialistischen Neuwerk-Bewegung. 1925 starb er mit 39 Jahren in Offenbach.

Otto Herpel: Die Frömmigkeit der deutschen Kriegslyrik, Gießen 1917 (Studien zur praktischen Theologie 7,3), VIII+182 Seiten, Sprache: Deutsch

MBBA Buchnummer: 18100

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